Analoges Hirn in einer digitalen Umgebung?
Mit einem analogen Gehirn in einer digitalen Welt?
Wir führen interkontinentale Gespräche per Telefon oder WhatsApp, wir mailen was das Zeug hält und tauschen Nachrichten über SMS, Facetime oder Skype aus. Texte übersetzen wir mit Deepl oder anderen Übersetzungsprogrammen. Professionelle Übersetzer befürchten bereits, dass ihr Beruf bald überflüssig wird. Statt Lexika zu durchforsten, schauen wir in Wikipedia nach. Filme streamen wir, wann immer wir wollen, bei netflix, Amazon Prime, Apple iTunes oder ähnlichen Diensten. Lernen gelingt mit You Tube Turorials. Den Weg weist das Navi, Kochrezepte holen wir aus dem Netz und unseren Partner suchen wir in digitalen Partnerbörsen – links attraktiv und rechts weg.
Keine Frage: die digitale Welt ist leistungsfähiger, einfach zu bedienen und effizient. Jedermann findet im World Wide Web zu jeder Zeit eine Menge an Informationen, darunter Interessantes, Merkwürdiges, Neues, Lehrreiches, Sinnloses, Sinnvolles, Unterhaltsames ... Nahezu das gesamte Wissen des menschlichen Daseins ist zugänglich.
So begrüßenswert diese Errungenschaften sind, so offenbaren sie auch Probleme. Das Internet ist vollgestopft mit Informationen und die unglaubliche Menge der verfügbaren Angebote wirkt für viele Zeitgenosse bedrohlich. Wir dürsten nach Wissen und ertrinken in einer Informationsflut.
Viele „User“ befinden sich permanent in einem Zustand der Überforderung. Für die schier grenzenlosen Umwälzungen, welche mittlerweile in nahezu alle Lebensbereiche vorgedrungen sind, zahlen wir einen hohen Preis: Immer mehr Menschen klagen über Abgeschlagenheit, gesundheitliche Beeinträchtigungen und psychologischen Erkrankungen.
Warum? Mit der atemberaubenden Dynamik der technischen Entwicklung können viele nicht mehr mithalten.
Einst lebten wir auf dem Land, dann in Städten und von jetzt an im Netz.
Wir müssen uns die Frage stellen, ob der Mensch überhaupt mit passenden Fertigkeiten ausgestattet ist, um in dieser digitalen Umgebung zu überleben. Ist unser Gehirn vorbereitet, sich an die moderne Internetwelt anzupassen? Kann unser Gehirn den heutigen Ansprüchen genügen?
Der moderne Mensch, also der Homo sapiens, tauchte vor etwa 200.000 Jahren auf. In den letzten 70.000 Jahren gelang es dem Menschen, die körperlichen Begrenzungen zu überwinden und mit seiner Intelligenz neue Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu finden. Zwar hat die Biologie die Menschen nicht mit besonderen Fertigkeiten ausgestattet. Doch hat unsere Spezies es bis zur Spitze der Nahrungskette geschafft. Wie das? Er lebte in Gruppen von 20 bis 50 Personen und wurde im Laufe der Evolution mit einem biologischen Verhaltensinventar ausgestattet, welches vor allem in einem Punkt sich als besonders nützlich herausstellte: Die Gruppenzusammengehörigkeit. Nur in der Gruppe konnte man die Widrigkeiten des Lebens überstehen. Um eine vertrauensvolle, das Überleben sichernde und zukunftsweisende Existenz aufzubauen, wurden Kommunikationsformen entwickelt, welche den Erhalt der Gemeinschaft förderten. Die Verständigung erfolgte in permanentem Kontakt von Angesicht zu Angesicht (heute würden wir sagen von „face-to-face“), verbal, körpersprachlich, mit Mimik und Gestik. Wir lebten in dauerhaftem Kontakt mit den Gruppenmitgliedern.
Überraschung im Netz?
Ein weinendes Gesicht löst bei uns mehr aus, als wenn jemand sagt „Ich bin traurig“.
„Es geschah vor mindestens 40.000 Jahren: der genetische Bauplan des menschlichen Gehirns war entstanden“ so die Neurobiologin Prof. Dr. Elisabeth Stern. Im Gehirn hat sich seitdem nicht viel verändert, aber in der Umwelt.
Unser Gehirn wurde nicht konstruiert, um den heutigen Ansprüchen zu genügen. Oder, wie es der Geschichtswissenschaftler Ronald Wright treffend formuliert hat: „Wir benutzen die Software des 21. Jahrhunderts auf einer Hardware, die zum letzten Mal vor 50000 Jahren aufgerüstet wurde“.
Obwohl unser Denkorgan ausgesprochen wandlungsfähig ist, befindet sich unter unserer Schädeldecke immer noch der »biologische Fingerabdruck« der Urzeit. Wir wissen, dass die Erde seit 4,5 Milliarden Jahren besteht, der moderne Mensch aber erst seit etwa 200.000 Jahren existiert, ein Wimpernschlag der Evolution. Inzwischen hat unsere Spezies völlig neue Handlungsoptionen aufgebaut, welche das steinzeitliche Verhaltensrepertoire deutlich übertreffen. Mit atemberaubender Dynamik wurden Techniken entwickelt, welche unser Gesellschaftsleben zum Teil nachhaltig beeinflussen. Das menschliche Gehirn wurde mit neuen Anforderungen konfrontiert, auf die es biologisch in den vergangenen tausenden von Jahren nicht vorbereitet worden ist.
Wir verwenden Kommunikationsinstrumente, welche begrüßenswerte und nutzbringende neue Kontaktmöglichkeiten eröffnen. Wir können zeit- und ortsunabhängig kommunizieren, das World Wide Web gehört mittlerweile zu unserem Leben wie essen und trinken. Wir treten allerdings mit Menschen in Kontakt, die wir häufig gar nicht persönlich kennen oder zumindest nicht während des digitalen Kontaktes sehen können. „Im Grunde“, so der Neuropsychologe Lutz Jäncke, „sind die Menschen im Internet nichts anderes als Avatare, also keine echten, physikalisch präsenten Menschen, sondern irgendwelche digitalen Wesen, die nicht wirklich fassbar sind“.
Empathie und Mitgefühl, menschliche Eigenschaften, welche für ein gutes Zusammenleben wichtig sind, haben heutzutage abgenommen. Die Anonymität des Internets fördert die Verminderung von Respekt, Vertrauen und bietet eine nur oberflächliche Zusammengehörigkeit. Es mangelt an persönlichen Kontakten. Ein „Like“ ist kein Freundesbeweis. Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Roth betont, dass digitale Kontakte in vielerlei Hinsicht zu einer Verarmung führen, weil die Vertrauensebene „online“ nicht herzustellen ist. Es fehle der wichtige menschliche Faktor: die Bindung.
Der Mensch, so anpassungsfähig er ist, kann sich an vieles gewöhnen. Gilt das auch für die Internetwelt? Wie können wir unser analoges Gehirn in der digitalen Umgebung lebendig halten? Lutz Jäncke schreibt in seinem Buch „Von der Steinzeit ins Internet – Der analoge Mensch in der digitalen Welt“, dass menschliche Kontakte überlebenswichtig und in unserem Gehirn fest verankert sind. Von daher empfiehlt er, Sozialkontakte mit Menschen zu pflegen. Wir sollten bewusst Zeiten festlegen, in denen wir uns nicht von digitalen Angeboten (digital detox = digitale Entgiftung) treiben lassen Das ist aufwendig und nicht leicht. Aber mit einer gehörigen Portion Selbstdisziplin kann das gelingen. Wir sollten lernen, Wichtiges von Nichtigkeiten zu unterscheiden, ein gedrucktes Buch zu lesen, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen und uns mehr in Gesellschaft aufzuhalten. Wir sind keine Sklaven digitaler Reize.
Genießen Sie analoge Erfahrungen, sie sind für unseren Körper und unser Gehirn lebensnotwendig!